Immer die gleichen Straßen… 3

Immer die gleichen Straßen. Immer die gleichen Straßen, die ich ohne Ziel durchschreite. Und mein Schatten. Und meine Gedanken. Zum Beispiel die Hetzendorfer Straße, mit dem Bahnhof der Schnellbahn, der sich dort befindet. Die Bahngleise sind auf einem Hügel, welcher mit grünem Rasen bepflanzt ist und hinter dem Wartehäuschen befindet sich im Gras eine verwitterte schwarze Gedenktafel. Dort steht in großen Lettern geschrieben: STANKOVIČ DRAGAN 12.06.75 BIS 2.5.89 und darunter die Namen seiner Eltern. Der Vater heißt PERO und den Namen der Mutter kann ich nicht entziffern, da er vom Gestrüpp bedeckt ist. Allein das Wort MAJKA ist sichtbar. Es ist ein jugoslawischer Brauch einen Gedenkstein aufzustellen bei jenem Ort, an welchem jemand umgekommen ist. Auf der Marmortafel ist dann noch die Fotographie eines Jünglings, sowie ein Kreuz mit weißen Rändern eingearbeitet. Er hat einen dunklen Teint und trägt ein weißes oben aufgeknöpftes Hemd. Immer wenn mein Weg dort vorbeiführt, gehe ich zu dem Zaun, hinter welchem die Tafel steht, schließe die Augen, während die Züge, mit der Heftigkeit einer Naturgewalt vorbeiziehen und denke nach. Bei uns heißt Verunglücken STRADANJE und die Bahnsteige werden PERONI genannt, geht mir dann immer durch den Kopf. Ich sinne, weswegen Schopenhauer den Suizid verurteilt, obwohl er doch sagt, dass Leben sei Leiden und es gäbe kein Jenseits. Ich versuche mir vorzustellen, was für eine Tragödie es gewesen sein muss, vom Ersparten, dass man vielleicht als Hausmeister oder Bedienerin zur Seite gelegt hatte, einen Gedenkstein für seinen fünfzehnjährigen Sohn zahlen zu müssen und dass es sehr menschlich von der Stadt Wien war die Aufstellung der Tafel zu erlauben. Damals gab es hier ja noch sehr wenige Jugoslawen, während diese Stadt heute voller unserer Leute ist. Überall vernehme ich meine Sprache: auf den Straßen, in den Geschäften und Lokalen. Im Vorbeigehen höre ich oft unsere Musik aus den Autos und Smartphones. Die Kleinen murmeln unsrisch mit schwacher Kinderstimme, wenn sie mit Ihren Eltern sprechen. Dann sage ich oft zu mir: Wieso wunderst Du Dich? Das ist für sie ganz normal. Sie sind hier geboren – Das ist ihr Leben. Und dann halte ich einige Augenblicke inne und frage mich: Doch wo ist Dein Leben? Jedenfalls als DRAGAN am 2.5.89 umgekommen ist gab es nur wenige Jugoslawen hier. Ich bin dann erst 92 nach Wien gekommen. In diesen und den folgenden Jahren erst kam dann der große Exodus der Balkaner in diese Stadt. DRAGAN hat das alles nicht mehr miterlebt. Den Zerfall unseres Landes, die Entzweiung der Menschen und den Krieg. Unseren Krieg mit uns selbst. Auf Google finde ich keine näheren Angaben zu den Umständen seines Todes. Nur bei der Bildersuche den Gedenkstein mit dem Namen des Vaters PERO und der MAJKA, deren Namen ich nicht entziffern kann. Die Tafel steht da im Gestrüpp, verwittwert durch Schnee und Regen; scheint der Zeit zu trotzen. Die Herzen treiben längst im Strom der Weite, schrieb der Dichter Benn…

Immer die gleichen Straßen. Immer die gleichen Straßen, die ich ohne Ziel durchschreite. Und mein Schatten. Und meine Gedanken. Und mein Zwiegespräch mit mir selbst. Und mein Blut, dass ich in meinem Kopf pochen höre. Und Sinnen über Gott, das sich manchmal zu einem Gebet verwebt. Und die Nacht, wenn sie hereinbricht; hereinbricht mit dem kühlen Wind auf meinen Wangen. Und der Traum, wenn er sich aufdrängt; aufdrängt mit dem Glühen der Stirne. Und der Stern, wenn ich ihn erspähe. Immer die gleichen Straßen und Dinge, an die man sich nicht erinnern kann und Dinge, die man nicht vergessen kann. Und Worte anderer, die ich hörte oder las und die in mir wiederhallen, Immer die gleichen Straßen. Manchmal sieht man eine Katze herumstreunen und oft Sträuche in den Rissen des Trotoirs und auch müdes Laub am Wegesrand.


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